Pionierjahre

Peter Thomas

 

Trotz der Probleme mit der Infrastruktur (schlechte Straßen, keine Tankstellen, keine Werkstätten) hatten es die Kraftwagen und Kraftfahrräder, wie sie amtlich genannt wurden, auch in den Amtsbezirk Till geschafft. Wann das erste Auto bzw. Motorrad hier zu sehen war, ist aus den Akten nicht ersichtlich. Es muss jedoch schon vor 1906 gewesen sein, denn zu diesem Zeitpunkt bestätigte Bürgermeister Oedenkoven, dass der frühere Chauffeur des Barons Steengracht von Moyland, Theodor Rademacher, nicht mehr in dessen Diensten stehe.

Es ist nicht mehr nachvollziehbar, auf welche Art und Weise Baron von Steengracht im Jahr 1906 von dem Angebot der Fa. Panhard & Levassor, Paris, Kenntnis über das neue Automobil-Modell erhalten hatte. Vielleicht durch eine Anzeige in einer Zeitung, vielleicht auch persönlich bei einem Aufenthalt in Paris?

Dieses Angebot könnte folgendermaßen ausgesehen haben:

Der Wagen wurde gekauft, und gleichzeitig ein Wagenführer angestellt, der mit dem neuen Antriebssystem vertraut war. Es handelte sich hierbei um den Chauffeur Hippolyte Massabeau. Dieser bekam eine Bescheinigung der Sachverständigen Gebrüder Ungering aus Kleve, dass er des Fahrens von Motorwagen kundig sei. Zur gleichen Zeit war im Amt Till noch ein Kraftfahrrad (Motorrad) angemeldet. Dieses gehörte dem Rentmeister von Moyland, van Reekum. Fabrikat und Modell ist uns nicht bekannt.

Bereits ein Jahr später erwarb der Molkerei-Verwalter Carl Irrgang aus Alt-Louisendorf vom Tierarzt Siebert aus Kalkar ein „Zweirad zur Personen­beförderung“, das die Firma Phänomen Fahrradwerke Gustav Hiller, Zittau, hergestellt hatte. Es besaß ein Eigengewicht von 70 kg und eine Leistung von 3 PS.

So waren im Jahre 1907 maximal ein Auto und zwei Motorräder auf den Straßen des Amtes Till (außer Durchgangsstraßen) unterwegs. Aufgrund der schlecht ausgebauten Straßen dürften die gefahren Geschwindigkeiten nicht sehr hoch gewesen sein. Die Unfallgefahr schien somit sehr gering - oder?

Ein Bericht von „wissen.de“ aus dem Jahre 2006 kommt hier zu vollkommen anderen Ergebnissen. Im Jahre 1906 war die Gefahr eines tödlichen Unfalls 56-mal so hoch wie 100 Jahre später. An jedem dritten Unfall waren Fußgänger oder Radfahrer beteiligt, ebenso hoch lag der Prozentsatz bei Unfällen mit Pferden und Kutschen

Aufgrund der geringen Dichte waren nur vier Prozent der Unfälle Zusammenstöße zwischen zwei Autos. Damals, genau wie heute, waren besonders oft PS-starke Fahrzeuge in Kollisionen verwickelt.

So musste der Bürgermeister auch über den ersten im Amt Till dokumentierten Unfall berichten, der sich am 10.10.1907 in Qualburg zugetragen hatte. Beteiligt hieran war das Automobil der Witwe des Barons von Steengracht und ein Landauer (s. Grafik) des Rentners Rogmann aus Kleve

Am 10. November 1907 nachmittags um 5 Uhr wären der Kraftwagen der Baronin Steengracht van Moyland aus Moyland und der Pferdeluxuswagen des Anton Rogmann aus Cleve, beide fast in voller Fahrt, auf der Provinzialstraße von Cleve nach Qualburg-Calcar fast mit voller Wucht zusammengestoßen, wenn nicht der Chauffeur des Kraftwagens in letzten Augenblick sein Fahrzeug in den Chausseegraben gelenkt hätte. Dadurch wurde ein Chausseegrabenbaum von beträchtlicher Dicke umgerissen, der Chauffeur schwer, die Besitzerin des Automobils leichter verletzt, das letztere beträchtlich, der Landauer des Rogmann nur durch Abbrechen der Deichsel beschädigt. Sonst sind nur ganz unbedeutende Hautabschürfungen bzw. Schnittwunden die Folge gewesen.

Bei den Verletzten handelte sich sich um
1. Chauffeur Hippolyte Massabeau aus Moyland, geb. 10.3.1874 in Frankreich
2. Baronin Steengracht van Moyland, Rittergutsbesitzerin zu Moyland, geb. 24.9.1876 zu Prag.
3. Ehefrau Major Karl von Zausen (Schnittwunde [gering] an der Stirne), van der Osten Irene, geb. von Planck, Cöln

Der Chauffeur wurde von der Deichsel des Rogmannschen Wagens gegen die Brust gestoßen, so daß dadurch sich eine innerliche Verletzung, eine Ansammlung von Blut und Wasser als Folge ergab. Schnittwunde in der Unterlippe. Die Verletzung war so stark, daß er ins Krankenhaus nach Cleve gebracht werden mußte.

Das Kraftfahrzeug wurde an der vorderen Seite, dadurch, daß es einen Chausseebaum umgefahren hatte, ziemlich stark beschädigt, Glasscheiben desselben wurden zertrümmert. (Die Beschädigungen war so gravierend, daß es nicht weiterfahren konnte. Die Deichsel des Rogmannschen Wagens brach ab, und die Pferde gingen durch. Die Insassen der Kutsche wurden jedoch nicht verletzt.)

Die Schadenshöhe wird auf 3.000 Mark geschätzt.

Das Verfahren wurde eingestellt, da ein Verschulden eines der Beteiligten nicht nachweisbar ist.

Hassellt, den 4.2.1908

Der Bürgermeister
Oedenkoven

In den Pionierjahren war das Autofahren noch deutlich gefährlicher als heute. Insgesamt ist der Kraftfahrzeugbestand bis 2005 auf das 2083-fache gestiegen, die Zahl der Verkehrstoten aber "nur" auf das 37-fache. Dazu trugen die zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlassenen Gesetze, Verkehrsschilder und auch die Aufklärungsarbeit der Automobilclubs bei.

Auch der Rheinisch-Westfälische Automobil-Club informierte die Fuhrleute und Automobilisten über die größten Gefahren und machte Vorschläge, wie man sich auf der Straße begegnen solle. Im Amt Till ließ der Bürgermeister im 1909 die Broschüre "Wichtige Grundsätze für die Regelung des Verkehrs" an die betroffenen Eingesessenen verteilen. Es waren, wie bereits berichtet, ein Automobilbesitzer und maximal zwei Motorradbesitzer, dagegen aber rund 500 Fuhrleute mit entsprechenden Gespannen.