Sieben Söhne

Peter Thomas

 

Stellen Sie sich bitte einmal folgendes vor: Sie sind schwanger, freuen sich auf Ihr siebtes Kind und, da Sie es christlich erziehen möchten, soll es auch getauft werden. Wie die Feier ablaufen soll, haben Sie sich schon genau überlegt – auch wer zu diesem Fest eingeladen werden soll. Einige Freunde oder Familienmitglieder haben Sie bestimmt auch schon gefragt, ob sie für Ihr Kind Pate sein möchten.

Da wird Ihnen vom Bürgermeister Ihres Dorfes oder vom Pfarrer Ihrer Kirchengemeinde ein Angebot gemacht, über das Sie intensiv nachdenken müssen, denn Sie erfahren, dass sich der Bundespräsident auf Antrag bereit erklären würde, seinen Namen als Pate Ihres Kind ins Taufbuch eintragen zu lassen und – was das Schönste ist – er wird auch noch die Kosten des Festes zum Teil übernehmen.

Was sagen Sie nun? Ist das nicht ein Angebot? Zu schön um wahr zu sein, werden Sie sagen, aber so oder so ähnlich hat es sich vor über hundert Jahren hier in der Rheinprovinz abgespielt. Ich schildere Ihnen einmal die näheren Umstände, und dann entscheiden Sie selbst, ob Sie nicht doch lieber den Onkel Franz zum Paten nehmen wollen anstelle des Bundespräsidenten.

Diese Form der Ehrenpatenschaft mit dem dazugehörenden Patengeschenk ist auf einen Erlass des Kurfürsten Clemens Wenzeslaus von Sachsen (1739–1812) aus dem Jahre 1790 zurückführen, der in heutigen Deutsch wie folgt lautet:

Die Erlangung des landesherrlich ausgesetzten Patengeschenkes von 50 Florin [Goldguulden] für den siebten Sohn in einer Ehe, kann nur dann stattfinden:

  1. wenn sämtliche sieben Söhne, in einer durch keine Tochter unterbrochenen Reihe, gezeugt;
  2. wenigstens der letzte Sohn während der Regierungszeit des Kurfürsten geboren; und
  3. demselben der Namen des Landesherrn in der Taufe beigelegt worden ist.

Auch andere Herrscherhäuser im heutigen Deutschland waren an einer hohen Geburtenrate mit möglichst vielen männlichen Nach­kommen interessiert, da man sie für die laufend geführten Kriege dringend benötigte. Preußen hatte u.a. Mitte des 18. Jahrhunderts drei Kriege um Schlesien geführt und, obwohl letzlich die Eroberung Schlesiens behauptet werden konnte, einen hohen Blutzoll entrichtet. Auch ließ die politische Konstellation ahnen, dass es immer wieder zu militärischen Auseinandersetzungen kommen könnte.

Und es kam, wie es kommen musste. Schon zwei Jahre nach Veröffentlichung des Erlasses des Kurfürsten begann die sogenannte "Franzosenzeit", die von 1792 bis 1815 dauerte und mit der Schlacht von Waterloo ein unrühmliches Ende für Napoleon Bonaparte nahm. Allein diese Schlacht forderte rund 45.000 Tote und Verwundete.

So viele tote Krieger mussten irgendwie ersetzt werden und das konnte wiederum am Einfachsten durch eine große Zahl von geborenen Söhnen erfolgen. Die Bevölkerung Preußens, insbesondere in den alten Stammgebieten rechts des Rheines, kannten bereits diese Praxis, und die 1815 neu hinzugewonnenen Provinzen wurden bereits 1816 eindringlich darauf hingewiesen, dass das Herrscherhaus mehr männliche Nachkommen wünsche:

Seine Majestät der König haben zu erklären geruht, daß der Gebrauch in einigen mit der Monarchie neu vereinigten Provinzen, nach welchem der Vater von sieben ehelichen Söhnen, die von einer Mutter in ununterbrochener Folge geboren worden, dem siebenten Sohne in der Taufe den Namen des Landesherrn beilegen darf, und der Täufling ein Gnadengeschenk erhält, beibehalten und auf sämtliche Provinzen der Monarchie erstreckt werden soll.

Ausserdem ist es aber der Wille Seiner Majestät, die öffentliche Unterstützung solcher dürftigen Eltern eintreten zu lassen, welche sieben oder mehr lebende Söhne, gleichviel, ob sie in einer oder mehreren Ehen, in ununterbrochener Folge, oder mit Dazwischenkunft von Töchtern geboren worden sind, zu erziehen haben.

Die Regierungen der Provinzen müssen die Hülfsbedürftigkeit der Eltern ermessen, und die zur Erziehung der Söhne zu leistende Unterstützung bestimmen.

Den Namen des Landesherren für den siebtens Sohn zu erhalten, war weiterhin kein Problem, doch "Vater Staat" musste drastisch sparen, und schon ein Jahr später wurde diese Verordnung wie folgt eingeschränkt:

  1. Das Patengeschenk erhalten die Eltern solcher Söhne, die getauft sind.
  2. Das Patengeschenk gebührt dem siebten von sieben Söhnen aus einer Ehe, ohne dass zwischen den Söhnen eine Tochter geboren werden darf. Verstorbene Söhne zählen auch nach deren Tod weiter.
  3. Die von 1) und 2) zu unterscheidende Unterstützung b e d ü r f t i g e r Eltern von sieben Söhnen kann nunmehr nach den Bestimmung des Königlichen Kabinetts nur noch erfolgen, wenn sämtliche sieben Söhne noch leben und von den Eltern ernährt werden.
  4. Jüdische Familien sind von der Teilnahme an Patengeschenken ausgeschlossen, da solches nur Täuflingen bewilligt worden ist. Auch auf die Unterstützung haben dürftige jüdische Eltern grundsätzlich keinen Anspruch.

Weitere Anpassungen folgten in den nächsten Jahren – aber niemals zu Gunsten der Eltern.

1909 ließ der Kaiser und König Wilhelm II. mitteilen, dass in denjenigen Fällen, in denen nach der bisherigen Gepflogenheit beim siebten, in ununterbrochener Reihenfolge und derselben Ehe geborenen Knaben der Kaiser und König als Taufpate in das Kirchenbuch ein­getragen wurde künftig ein Gnadengeschenk von "Fünfzig Mark" bei vorliegender Bedürftigkeit zu gewähren war. Das Gnaden­geschenk war ein Betrag, der hoch willkommen war, denn der durchschnittliche Monatslohn eines Arbeiters betrug in dieser Zeit nur rund 87 Mark und ein Kilogramm Brot wurde mit 50 Pfennig bezahlt.

Eine Verbesserung für die „geplagten“ Eltern kam im Jahr 1910. Anscheinend benötigte man noch mehr zukünftige Soldaten, denn die politischen und sozialen Änderungen in Europa waren für das Deutsche Reich gravierend. Ärger mit den Nachbarstaaten war vorprogrammiert.

Der Innenminister gab den Regierungspräsidenten bekannt, dass in Zukunft das Patengeschenk auch an solche Familien (bzw. deren Söhne) gewährt werden soll, die nicht zu den Bedürftigen gerechnet wurden.

Es wurde jedoch streng untersagt, die betroffenen Eltern zur Stellung entsprechender Anträge aufzufordern. Auch sollte den nicht bedürftigen Ehepaaren empfohlen werden, das königliche Patengeschenk für den betreffenden Sohn in einem Sparkassenbuch an­zulegen und den durch Zins und Zinseszins erhöhten Betrag zu einer späteren Zeit – vielleicht bei der Konfirmation oder noch später – als Erinnerung an den landesherrlichen Paten auszuhändigen, bzw. zu seinem Nutzen zu verwenden.

In der Folgezeit wurde die Genehmigung zur Eintragung des königlichen Namens ins Kirchenbuch sowie die Zahlung des Paten­geschenkes auf die Regierungspräsidenten und später auf die Landräte heruntergebrochen.

Wer konnte sich im Bezirk des Amtes Till eine Chance auf die Ehrenpatenschaft und das Ehrengeschenk ausrechnen? Wie sahen die Kinderzahlen im Amt Till aus?

Der Kinderreichtum hatte erheblich zugenommen, denn in nur 22 Jahren ist die Anzahl der Familien mit sechs und mehr Kindern um rd. 143 % gestiegen; die Anzahl der Kinder selbst nahm um ca. 163 % zu. Trotzdem erhielten bis 1920 nur insgesamt sieben Familien ein Ehrengeschenk.

Ab 1918 wurde über die Ehrenpatenschaft zusätzlich eine Urkunde ausgestellt. Gleichzeitig hatte Kaiser Wilhelm beschlossen, dass künftig Söhne, die vor dem Feinde gefallen waren, für die Gesamtzahl der am Leben befindlichen mitzuzählen sind. Mit dem Ende der Monarchie wurde auch das Ende der Patenschaft und der Ehrengabe eingeläutet.

Erst neun Jahre später kann aus den Akten eine Rückbesinnung auf vorherige Werte ersehen werden. Der Innenminister schrieb an die Regierungspräsidenten:

Der Herr Reichspräsident pflegt bei Familien mit mindestens 7 lebenden Kindern (Söhne und Töchter zusammengerechnet) Anträgen auf Uebernahme der Ehrenpatenschaft in geeigneten Fällen zu entsprechen, sofern Ruf und Leumund der Familie zu bedenken keinen Anlaß geben. Liegt gleichzeitig Bedürftigkeit vor, so erhalten deren Eltern für den Täufling eine Gabe von 20,– RM. Ausdrücklich wird dabei der Vorbehalt gemacht, daß aus der Uebernahme der Patenschaft keine weiteren Verpflichtungen für den Herrn Reichspräsidenten hergeleitet werden dürfen.

[…] Zur Behebung von Zweifeln wird ferner bekannt gegeben, dass der Herr Reichspräsident und auch der Herr Ministerpräsident Patenstelle nur bei je einem Kinde in ein und derselben Familie übernehmen.

Die Ehrenpatenschaft musste auf besonderen Formularen beantragt werden. Beispielsweise erfolgte dies durch den Bürger­meister des Amtes Till, Paul Oedenkoven, für das achte Kind des landwirtschaftlichen Tagelöhners Wilhelm Seeger und seiner Frau Petronella am 7.4.1931. Der Bürgermeister bestätigte, dass es sich um ein Kind katholischer Eltern handelte, dass die in Schneppenbaum wohnende Familie in einem guten Rufe stehe und dass die Übernahme der Ehrenpatenschaft empfohlen werde. Auch auf die dringende Notlage der Familie wird eingegangen, denn diese lebte in sehr ärmlichen Verhältnissen. Es seien acht Kinder vorhanden, wobei das älteste Kind 10 Jahre alt sei.

Ab 1936 war Adolf Hitler als Ehrenpate sehr gefragt. Der „Führer“ wollte jedoch wegen des Andrangs Patenschaften nur noch in Aus­nahmefällen übernehmen – nämlich nur noch ab dem siebten Sohn oder dem neunten lebenden Kind. Jedes dieser Kinder erhielt eine Urkunde des Reichskanzlers.

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges und Gründung der Bundesrepublik Deutschland entschloss sich im Herbst 1949 Bundespräsident Heuss die Übernahme der Ehrenpatenschaft durch das Staatsoberhaupt wieder aufzunehmen. Die Grundbedingungen glichen den früher geltenden Bestimmungen:

  1. Es muss ein Antrag gestellt werden,
  2. die Ehrenpatenschaft erfolgt grundsätzlich für das 7. Kind,
  3. Die Ehrenpatenschaft wird in einer Familie nur einmal übernommen.
  4. Zum Zeitpunkt der Antragstellung müssen einschließlich des Patenkindes mindestens sieben lebende Kinder zur Familie zählen, die von denselben Eltern, derselben Mutter oder demselben Vater abstammen. Adoptivkinder sind den leiblichen Kindern gleich­gestellt.

Der Bundespräsident stellt nach Prüfung der Voraussetzungen eine Urkunde über die Annahme der Ehrenpatenschaft aus und lässt diese mit einem Patengeschenk – zurzeit 500 Euro – den Eltern von einem Repräsentanten des Wohnortes überreichen.

Seit 1949 wurden insgesamt rund 81.250 Ehrenpatenschaften übernommen (Stand: 31.12.2019). Der Pate erscheint nicht persönlich zur Taufe; auch übernimmt er keinerlei Verpflichtungen in späteren Zeiten.

 

Quellen und Literatur

Gemeindearchiv Bedburg-Hau, BT 611

Der Bundespräsident – Jubiläen und Ehrenpatenschaften, URL: http://www.bundespraesident.de/DE/Amt-und-Aufgaben/Wirken-im-Inland/Jubilaeen-und-Ehrenpatenschaften/jubilaeen-und-ehrenpatenschaften-node.html (05.03.2020)

Heimatjahrbucharchiv Landkreis Vulkaneifel – Alois Mayer: Mein Pate, der Herr Bundespräsident, URL: https://www.heimatjahrbuch-vulkaneifel.de/VT/hjb1987/hjb1987.63.htm (05.03.2020)

Was war wann? – Monatslohnentwicklung, URL: https://www.was-war-wann.de/historische_werte/monatslohn.html (05.03.2020)

Wikipedia: Franzosenzeit, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Franzosenzeit (05.03.2020)
 

Bildnachweis

Bild 1: Schlacht bei Waterloo, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_bei_Waterloo#/media/Datei:Battle_of_Waterloo_1815.PNG (05.03.2020)
Bild 2: Amtsblatt der Regierung Kleve vom 6.6.1816
Bild 3, 4: Gemeindearchiv Bedburg-Hau, BT 611